BLOGVergebung ist nicht immer leicht: Grabrede

Vergebung ist nicht immer leicht

Die Grabrede

Grabrede

Wer sich mit der Beseitigung seiner Schüchternheit und seinen sozialen Ängsten beschäftigt, der wird früher oder später herausfinden, welche Personen an deren Entstehung beteiligt waren. Hier besteht die Gefahr, dass man sich um einen Teil seines Lebens betrogen fühlt und so Hass gegen diese Personen entwickelt. Auch wenn dieses Gefühl nachvollziehbar ist, so ist eine Schuldzuweisung weder notwendig noch sinnvoll. Denn wem Sie die Schuld geben, dem geben Sie die Macht!

Vor der dunklen Seite hüten du dich sollst
(Yoda, Star Wars)

TIPP: Wer Schwierigkeiten damit hat, anderen zu vergeben, der kann versuchen, eine Grabrede für den Verursacher zu schreiben, selbst wenn diese Person noch lebt. Warum? Weil man nicht schlecht über Tote spricht und so gezwungen ist, auch die positiven Seiten eines Menschen herauszufinden.

Ein Beispiel

Meine Mutter, die mein Leben zu einer richtigen Herausforderung für mich gestaltet hat, ist inzwischen verstorben. Ich musste einige Zeit überlegen, um eine schöne Grabrede für sie zu schreiben:

Sie wurde als „Johanna Floriana“ geboren. Von den meisten wurde Sie jedoch einfach liebevoll „Hanni“ genannt.

 

Sie hat sich zeitlebens um so vieles Sorgen gemacht: um Menschen, um Dinge, die Gegenwart und die Zukunft. Ihre Sorgen waren nicht ganz unbegründet, denn Sie hat in ihrem Leben selbst sehr viel Leid und Ängste ertragen müssen.

Zum Beispiel hat Sie den 2. Weltkrieg selbst in voller Härte miterlebt und dabei zahlreiche Entbehrungen erlitten, die sie teilweise für den Rest ihres Lebens geprägt haben. Ein großer Mangel an Lebensmitteln war nur eine von vielen Knappheiten, die sie miterlebt hat - und die es heute glücklicherweise nicht mehr gibt.

 

Diese erlittenen Entbehrungen führten auch dazu, dass Sie nicht mehr so recht an Gott glauben konnte, und sich immer weiter von ihm entfernte. Erst viel später in ihrem Leben, nämlich mit dem Tod meines Vaters, begann sie sich wieder an den Allmächtigen zu erinnern. Dann erhielt er die Aufmerksamkeit, die sie ihm bis dahin so lange verwehrte.

 

Sie liebe die Menschen und genoss die gemeinsame Zeit mit ihnen. Daher hat sie ihr Leben, solange wie es ihr möglich war, dem Tourismus und den „Fremden“ gewidmet:

  • Zuerst als Zimmermädchen in Tourismusgebieten,
    wie beispielsweise Zürs, Lech oder Velden
  • Später den eigenen Sommergästen in Reifnitz

Bei so viel Liebe und Herzlichkeit war es kein Wunder, dass die Sommergäste sehr gerne jedes Jahr wiederkamen. Die entstandenen Kontakte und Freundschaften hielten sogar noch aufrecht, nachdem der Urlaub in Reifnitz nicht mehr so einfach möglich war wie in Zeiten des sogenannten „Wirtschaftswunders“.

Auch Haus und Garten waren ihr immer sehr wichtig. Diese wurden von ihr liebevoll, ja sogar aufopfernd gepflegt. Für die nach außen hin sichtbare Pracht wurde Sie immer wieder bewundert. Damit fühlte Sie sich auch sehr wohl, denn auf Ordnung und die Meinung der anderen Menschen legte sie viel Wert.

 

Sie konnte auch sehr fürsorglich und humorvoll sein. Eine Seite von ihr, die vielleicht manchmal ein kleinwenig zu kurz kam. Aber sie war da und damit umso wertvoller!

 

Was bleibt mir noch zu sagen? Danke, dass du mich geboren hast, mich großgezogen und umsorgt hast. Danke dafür, dass du jederzeit bereit warst, mir deine Hilfe anzubieten, wenn ich einmal in einer Notlage war. Danke für all das, was du mir in deinem Leben gegeben hast!

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Von Rudolf Lechleitner am 19.01.2016

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